Gedanken zum Tag des Ehrenamtes am 5.Dezember

Am 5. Dezember 21 ist Tag des Ehrenamtes. Wir möchten uns ganz herzlich bei all unseren Ehrenamtlich für ihre tolle Arbeit bedanken.

Passend dazu gibt es einen Text der Autorin Brigitte Heidebrecht. Darin geht es um ehrenamtliche Patenschaften im Rahmen der Flüchtlingshilfe. Hautnah, informativ, reflektierend.

 

Brigitte Heidebrecht
Flüchtlingshilfe: Die ehrenamtliche Patin

Sie tut, was zu tun ist. Oft fühlt sie sich wie im Dschungel. Ein Dschungel aus Paragrafen, Fristen,
Zuständigkeiten. Sie schlägt sich durch.
Nein, sie hat keine einführende Fortbildung besucht wie ihre Ehrenamtskolleg*innen vom Hospiz,
vom Kinderschutzbund oder von der Telefonseelsorge. Sie ist irgendwann über fremde Menschen
gestolpert, die nicht allein zurechtkamen, und hat die Ärmel aufgekrempelt. Jetzt hängt sie drin. Zu
Fortbildungen ging sie später.
Doch, es gibt strukturierte, von Hauptamtlichen begleitete Pat*innenprogramme verschiedener
Träger, von Kommunen, Kirchen und anderen. Ihr vermutlich nicht ganz falscher Eindruck aber ist,
dass ein Großteil der Patenschaften irgendwie einfach so entstanden ist. Diese Paten nennen sich
vielleicht nicht einmal Paten, aber sie sind es: die Frau/der Mann für alles, was eben zu tun ist. Man
wächst da rein.
Eine Pat*in wird vielseitig sozialisiert. Vielleicht wollte sie einfach nur ein bisschen Deutschnachhilfe
geben. Dann hat sie einen Praktikumsplatz besorgt. Dann ist sie zum Arzt mitgegangen.
Und als der junge Mann in der Flüchtlingsunterkunft durchdrehte, weil er bei den dünnen Wänden
und den lebhaften Nachbarn kaum zum Schlafen kam, da hat sie ihren gesamten Bekanntenkreis
aufgescheucht, bis sie ein Privatzimmer für ihn fand. Seither wussten alle von ihrem neuen Hobby
und warum sie oft so wenig Zeit hatte.
Manchmal gibt es ruhige Zeiten, da wendet sie sich aufatmend ihrem eigenen Leben zu, räumt den
Dachboden auf, putzt mal wieder die Fenster. Manchmal gibt es Zeiten, da schläft sie schlecht.
Wacht morgens in aller Frühe auf und merkt, wie ihr Hirn die Nacht über durchgerattert hat.
Manchmal hat sie am Morgen die besten Ideen. Dann sitzt sie mittags noch im Schlafrock am
Schreibtisch, telefoniert sich das Ohr ab, schreibt eine Mail nach der anderen. Es muss doch gehen!
Manchmal kann sie Lebensperspektiven eröffnen. Das ist beglückend. Der Job, den sie gefunden hat,
in dem der junge Mensch aufblüht. Das ruhige Privatzimmer, in dem er nun endlich durchschlafen
kann. Der Deutschkurs, den der Staat nur für die Anerkannten vorgesehen hat, in den sie einen
derjenigen hineinmanövriert hat, die auf Teufel komm raus von Staats wegen abgelehnt werden,
und den sie bezahlt. Sie kann helfen, dass das Leben weitergeht. Das fühlt sich unumstößlich richtig
an.
Manchmal kommt sie kaum zu Verschnaufen. Ist der eine versorgt, brennt’s beim nächsten. Die
Überraschungen nehmen kein Ende und sie lernt immer wieder dazu.
Einer ist als politisch Verfolgter anerkannt worden und möchte nun seine Frau nachholen. Dafür hat
sie ein paar Tage lang Gesetzestexte gelesen. Zu ihrem Erstaunen stört es den deutschen Staat nicht,
wenn einer eine sogenannte Handschuhehe per Telefon eingeht; es wird durchaus berücksichtigt,
dass diese Art zu heiraten in anderen Staaten rechtskräftig ist. Was das deutsche Recht allerdings
unterscheidet, sind Ehen, die vor, während oder nach der Flucht geschlossen wurden. Die einen
Ehefrauen dürfen kommen, die anderen nicht. Sie wird ihm also erklären müssen, dass er zu spät
dran ist, sie wird seinen Traum zerstören müssen. Wird er psychisch zusammenbrechen, oder wird
er’s verkraften? Nein, er ist fürs Erste nicht zusammengebrochen, Gottseidank.
Kaum atmet sie auf, schickt ein anderer per WhatsApp ein Foto: Brief gekommen, was ist das? Das
Wort in der Überschrift kennt er noch nicht: Strafbefehl. Sie eigentlich auch nicht wirklich. Diesmal
googelt sie ein anderes Gesetzbuch: Strafgesetz. Sie telefoniert. Sie rauft sich die Haare. Sie schläft
wieder schlecht, sehr schlecht. 5 Gramm Haschisch in der Hosentasche. Polizeikontrolle am Bahnhof.
Der Anfänger! Plötzlich fällt ihr ein: Sie hat ja auch noch ein Stückchen… ganz hinten in der einen
Schublade hinter dem Krimskrams. Gut 40 Jahre ist das jetzt alt. Ob das noch tut?
Können wir ja zusammen rauchen, lacht die eine Freundin.
Wie viel Gramm sind das denn? fragt die andere.
Sie nimmt die Briefwaage: 4 Gramm. Sie nimmt das Bröckchen, das immer noch gut riecht, geht in
den Garten und versenkt es im Komposthaufen. Baden-Württemberg schiebe nur Kriminelle nach
Kabul ab, hat sie immer gehört und war beruhigt. Aber so hat sie sich die Kriminellen nicht
vorgestellt. Wie wird sie ihm nun erklären, dass seine Bleibechancen damit gegen Null tendieren?
Wird er dann von der Brücke springen, wie er es ohnehin schon ein paarmal angedeutet hat? Das
Haschisch hat er wohl gebraucht, um bisher nicht zu springen.
Und wie wenn es noch nicht genug wäre, bekommt sie am Abend noch eine andere Nachricht: dass
der nette Kurde, den sie vorzeiten beim Theaterprojekt kennengelernt hatte, ein halbes Jahr
in der Türkei festgehalten wurde und jetzt endlich wieder da sei. Sie ruft ihn an. Und erfährt den
Grund, warum die türkische Polizei ihn in Istanbul am Flughafen abfing, als er zur Hochzeit seiner
Schwester reisen wollte, ihn nach Ankara brachte, ihn ins Gefängnis steckte, ihn verhörte, ihn
verurteilte, ihm ein Ausreiseverbot verhängte: weil er auf dem Marktplatz unserer Nachbarstadt, die
seit über 20 Jahren seine Heimatstadt ist, beim Stadtfest mit einer Musikgruppe kurdische
Liebeslieder gesungen hatte. In Ankara hatten sie ihm ein Video dieses Auftritts gezeigt.
Er ist kein Flüchtling, vielleicht war er mal einer, sie weiß es nicht, nur, dass er schon ewig und drei
Tage in Deutschland lebt, bestens deutsch spricht und einen deutschen Pass hat.
Und wie bist du zurückgekommen?
Er habe sich jeden Tag zur Unterschrift bei der Polizeiwache melden müssen, man habe ihn
schikaniert und stundenlang in der Sonne vor der Türe warten lassen, Tag um Tag. Schließlich, nach
einem halben Jahr, habe es ihm gereicht und er habe sich einen Schlepper gesucht.
Einen Schlepper? Du?! Mit deutschem Pass?!
Ja, und mit dem Schlauchboot zurück nach Europa.
Manchmal ist die ehrenamtliche Patin k.o.. Und sie hat Verständnis für all die anderen, die
manchmal k.o. sind. Für die Rechtsanwält*innen z.B., die Asylrecht machen. Von denen es viel zu
wenige gibt. Wer Asylrecht macht, braucht eine Menge Frustrationstoleranz und wird nicht reich. Für
die Sozialarbeiter*innen in den Flüchtlingsunterkünften, die für je 120 Personen zuständig sind – wie
soll eine/r das schaffen. Für die Ehrenamtlichen, die es irgendwann stecken. Ja, es kann einem zu viel
werden. Oder für diejenigen Ehrenamtlichen, die immer noch sehr aktiv sind, die jedoch sagen: Mit
dem juristischen Kram befasse ich mich nicht. Ja, das ist eine spröde Materie. Aber es geht nicht
ohne. Paragrafen sind die elegante Art von Stacheldrahtzaun um die Festung Europa.
Ja, manchmal ist sie k.o.. Meistens aber krempelt die ehrenamtliche Patin die Ärmel auf, singt mit
den schwarzhaarigen Männern ein afghanisches oder kurdisches Liebeslied, druckt sich weitere
Paragrafen aus dem Internet aus und kämpft weiter. Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft,
hat schon verloren. (Ob dieser Satz nun von Brecht ist oder nicht, wo er recht hat, hat er recht.) Das
schreibt sie allen auf einen Zettel, wenn sie den Mut verlieren wollen. Neuerdings verschenkt sie
dazu Stehaufmännchen.
Es gibt hilfreiche Strukturen, die sie in ihrem alltäglichen Kampf unterstützen. Es gibt
Ehrenamtskoordinator*innen, Migrationsbeauftragte, Integrationslots*innen oder wie sie hier und
da und dort heißen, die zuständig sind für die Beratung der Ehrenamtlichen. Es gibt Fortbildungstage,
Beratungsstellen und gute Internetseiten, und es gibt Organisationen der ehrenamtlichen Aktivisten
selbst. Auch dies alles ein Teil des Dschungels. Die Patin fragt sich durch.
Und sie fragt sich, wie viel das hochgelobte Ehrenamt eigentlich stemmen kann. Und wie all die
vielen Geflüchteten klarkommen mögen, die nicht mehr oder weniger zufällig eine Pat*in gefunden
haben. Oder wie manche der Ehrenamtlichen ihr Scheitern oder ihre Irrungen und Wirrungen
verarbeiten mögen. Sie fragt sich, wie viel Integration tatsächlich geschehen mag in diesem
Dschungel, und wer alles dabei untergeht. Die im Dunkeln sieht man nicht. (Auch von Brecht, oder?)
Sie sagt sich, dass da noch viel Luft nach oben ist, was die Funktionalität der Hilfsstrukturen angeht,
und dass in dysfunktionalen Strukturen stets viel Kraft und guter Wille verpufft. Dass das aber wohl
überall so ist. Wie verrückt ist die Welt und wie verrückt sind Sie? werden Prominente in der ZEIT
regelmäßig gefragt. Die Antwort der Patin: Mindestens so.
Die ehrenamtliche Patin hat nicht viel Zeit für theoretische Fragen, sie ist dem Alltag verpflichtet. Sie
manövriert auf Sicht an der Schnittstelle zwischen wohlwollender Integrationshilfe (von Staat,
Ländern, Kommunen, Kirchen, Sozialverbänden, Zivilgesellschaft) und juristisch fundamentierter
Migrationseindämmungspolitik. Sie reibt sich wund an gesellschaftlichen Sollbruchstellen, sie läuft
heiß als viel zu kleine Nabe viel zu großer globaler Widersprüche. Sie wirft ihr Winzgewicht in die
Waagschale der Weltgeschichte. Sie mag ein gesellschaftliches Alibi sein, eine Lückenstopfung,
ein Tröpfchen auf einen bereits viel zu aufgehitzten Stein, eine hoffnungslose Zweckoptimistin, egal.
Sie hält es mit Václav Havel: Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern
die Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht.
Die ehrenamtliche Patin ist eine, die da ist. Wenn z.B. wieder eine WhatsApp kommt. Hallo, wo bist
du, hast du Zeit? Ja, sie hat Zeit. Sie nimmt sie sich. Sie tut, was zu tun ist. Dabei erlebt sie Selbstwirksamkeit (manchmal), Kontakt (intensiv) und intellektuelle Herausforderung (mehr als genug).
Wir müssen uns die ehrenamtliche Patin als einen glücklichen Menschen vorstellen.
(Diesmal Camus, Sisyphos.)

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aus: Brigitte Heidebrecht, Fernreise daheim. Von Flüchtlingen, Kulturen, Identitäten und anderen Ungereimtheiten.
5. erweiterte Neuauflage 2021, 234 Seiten, Paperback, 15,- €.
ISBN 978-3-9821383-2-9. www.verlag-grosse-spruenge.de